9.

Auf dem Rücksitz des kleinen, ein wenig klapprigen Wagens aus der Sowjetzeit hatte Katja erstmals Zeit, wirklich über ihre Situation nachzudenken.
Ein Kumpel hatte seine erste Fernsehrolle erhalten, sie waren mit einer Gruppe Studenten feiern. Eine Menge Alkohol war im Spiel gewesen, so viel wusste sie auf jeden Fall noch. Und dann ertönte eine schöne, irgendwie unwirkliche Melodie, der sie folgte, als hinge ihr Leben davon ab...
Der Kuss, der Biss, die Frage, ob sie nicht auch gerne... ihr Ja, die Wandlung, das Zwielicht, die Nachtwache. Das alles raste an ihr vorüber wie der Horrortrip eines Junkies.
Mit dem Rand ihres Bewusstseins nahm sie etwas Pulsierendes um den Fahrer herum auf, doch es war weg, wann immer sie genauer hinsehen wollte.
Sie fuhren ungewöhnlich zügig für Moskauer Verhältnisse - nicht ein einziges Mal gerieten sie in einen der Staus, die das Fortkommen auch mal um drei Stunden verzögern konnten.
Sie würde ausgebildet werden von einem Lichten und einem Vampir. ar das nicht gegen den Riesenkontrakt oder wie das Ding hieß, den man ihr vorgelesen hatte?
Nichts wusste sie von jener Welt, in die sie Zufall und ein paar Cocktails zuviel geworfen hatten.

Im Autoradio lief Agata Kristi...

Im Dämmertraum erschien er mir
Der geflügelte Seraph
Und im Traum sagte ich ihm
Lass uns fliegen, fliegen, fliegen.

Ja, genauso war es auch bei ihr gewesen... Ein Engel war aus dem Nichts erschienen und sie hatte im Rausch ihn dazu aufgefordert, sie zu verwandeln...

Ich weiß, er existiert und erwartet mich
Mein Traumanlegeplatz
Schenk mir den Pfad, sprich die Losung
Von der ich so sehr träumte.

Aber wusste sie damals, dass ihre dummen Jungmädchenträume in einer schrecklichen Wirklichkeit münden würden?

Der Ausweis, Ausweis, Ausweis für den Himmel
Der Ausweis für den Himmel.

"Oder ins Zwielicht." Katja grinste ironisch.

Er antwortete mir: Es herrscht
Der letzte Krieg
Es zieht gegen die die rein sind
Satan der Verfluchte

Flieg mit mir, flieg mit mir
Mit dir werden wir siegen
Du wirst für Gott sterben
und wir überreichen dir den

Ausweis, Ausweis, Ausweis für den Himmel
Den Ausweis für den Himmel.

Würde es darauf hinauslaufen, dass sie im Kampf der Lichten und der Dunklen ums Gleichgewicht aufgerieben werden würde?



Etwas in ihr war gestorben, als sie sich der Leidenschaft überließ. Sie war nicht mehr ganz Katja, soviel wusste sie, doch wer war sie? Die Gotteskriegerin, nach der der Song verlangte, würde sie wohl nie sein können. Würde sie über ihr Schicksal lächeln? Vielleicht irgendwann, wer weiß, aber sie war definitif noch nicht soweit.
Der Wagen hielt und sie stieg etwas wackelig aus. Der Mann - Semjon - half ihr in die Einfahrt und verschwand.
Katja stieg die abgewetzten Stufen des Wohnheims hoch und schloss auf. Auf dem Boden lag ein Briefumschlag, den sie aufschnippte.

"Liebe Katerina Pavlovna,

Da du eine Ausbildung bei uns anfangen und exmatrikuliert werden wirst, steht dir dieser Wohnraum nicht mehr zu. Deine Sachen werden morgen in eine andere Wohnung gebracht, du musst dich um nichts kümmern. Anton wird dich abholen und zur Nachtwache bringen.

Boris Ignatewitch."

Schön! Sie wurde mal wieder nicht gefragt! Nicht, dass es sie wirklich gestört hätte, woanders zu wohnen. Eine besondere Zuneigung zu diesen vier Wänden mit den mottenzerfressenen Tapeten und den Kakerlaken in der Küche hegte sie nicht. Aber es ging ihr gegen den Strich, bevormundet zu werden.
Wütend ließ sie den Briefumschlag fallen und ging zum Waschbecken, wo sie sich mit Seife und Wasser daran machte, ihr Gesicht von all der Schminke zu befreien. Dabei fiel ihr auf, dass die Seife stark nach Chemie roch und unangenehm auf der Haut brannte. Sie würde sich eine andere kaufen müssen, die ging nun gar nicht.
Als sie endlich fertig war, schaute sie in den Spiegel - ein Mädchen mit traurigen Augen, komisch nach oben zeigenden Augenbrauen und einer Stupsnase blickte ihr missmutig, aber eindeutig normal entgegen. Sie selbst käme nie auf die Idee, so Eine für eine Vampirin zu halten.