Minerva zuckte zusammen. Unwillkürlich duckte sie sich. Grelle Blitze durchschnitten die Luft, wütende Schreie gellten in ihren Ohren. Zauberstäbe peitschten wild umher. Offenbar war sie mitten in ein erbittertes Duell geraten. Sie sah, wie drei junge Männer, schlaksig, aber mit großen, wütenden Zauberstabbewegungen, miteinander kämpften. Das war kein Spiel, es schien ein Kampf auf Leben und Tod zu sein.
Doch was war das? Eine Welle von Magie schien die Kämpfenden zu berühren. Zornig wandte sich einer der Jungen nach der Ursache dieser Einmischung um. Minerva folgte seinem Blick und sah ein Mädchen – hilflose Zeugin dieser Auseinandersetzung. Sie war blass, ihre Zöpfe in Unordnung geraten, die Haare lagen wirr um ihr schmales Gesicht. Ihr kleiner, schmächtiger Körper zitterte vor Angst, doch da war noch etwas anderes in ihrem Blick, etwas, was Minerva nicht deuten konnte. Die Kleine schrie entsetzt: „Was macht ihr da, hört auf!“ Dann – man sah ihren Bewegungen an, dass sie all ihren Mut zusammennehmen musste, um sich den Kämpfenden zu nähern – rannte sie auf die Jungen zu. Und wieder brach eine Welle von Magie aus ihr hervor, die die Jungen traf. Sie schien nicht zu wissen, was sie tat, sie war nur von einem einzigen Gefühl erfüllt, einem Gefühl, dass sich Minerva mit brachialer Gewalt mitteilte - Angst.
Sie hielt sich im Hintergrund, der Streit ging mit unverminderter Heftigkeit weiter. Plötzlich sank das Mädchen zu Boden. Sie wimmerte leise: „Ab, Daddy, Mum, warum helft ihr mir nicht ...?“ Ihre Stimme erstarb und abrupt veränderte sich das Bild. War das noch dieselbe Erinnerung? Die Konturen waren seltsam unscharf, die Farben wirkten wie von einem grauen Schleier überzogen. Das Mädchen war viel jünger, höchstens fünf oder sechs Jahre alt, es tollte über eine Blumenwiese, spielte zusammen mit anderen. Mit einem fröhlichen Lachen ließ es kleine Steinchen vom Boden in die ausgestreckte Hand hüpfen. Doch schlagartig änderte sich die Stimmung, Geschrei ertönte, das Mädchen rannte weg, die Nachbarsjungen hinter ihr her. Die Hände vor die Augen gepresst rannte sie in Richtung Haus, doch sie wurde eingeholt. Schläge hagelten auf sie nieder, Tritte trafen sie, zusammengekrümmt wimmerte sie um Hilfe: „Daddy, Daddy ...!“ Minerva bekam eine Gänsehaut, als sie die tränenerstickte Stimme hörte. Sie kam aus ihrer Deckung hervor, doch niemand bemerkte sie. Natürlich nicht, beinahe hätte sie vergessen, dass das, was sie sah, schon lange vergangen war. Ein großgewachsener Mann kam mit langen Schritten aus dem Haus gerannt, er setzte den Jungen, die bei seinem Anblick sofort die Flucht ergriffen hatten, hinterher. Sein Gesicht war der Inbegriff des Zorns! Und wieder sah Minerva farbige Blitze, offenbar hatte er die Jungen eingeholt. „NIE WIEDER WERDET IHR MEINER TOCHTER ETWAS ANTUN! NIE WIEDER!“ Starke Arme hoben das Kind auf und trugen es ins Haus. Mit sanfter Stimme flüsterte der große Mann: „Es wird alles gut, meine Kleine, es wird alles wieder gut.“ Unter den sanften Beschwörungen schlossen sich die Augen des Kindes, ebenso wie seine Wunden. Dann wurde es finster. Gruselige riesenhafte Ungeheuer, Schattengestalten, schreckliche schwarze Dämonen beherrschten für eine Weile das Bild, das Minerva sah, und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was sie da sah. Sie war in die Alpträume einer gequälten Seele eingetaucht. Wie schrecklich musste es sein, wenn man solche grässlichen Dinge immerzu sehen musste. Sie empfand Mitleid mit dem Kind – und sie konnte die Reaktion des Vaters verstehen. Zum Glück änderte sich das Bild erneut, aber es war immer noch unscharf, seltsam verzerrt. Sie war in einer großen Küche, wieder einmal schien es Streit zu geben. Der Mann, der die Nachbarsjungen angegriffen hatte, hielt ein Pergament in der Hand und schüttelte den Kopf. „Nein, sie werden mich gleich abholen“, flüsterte er kaum hörbar. Einer der beiden Jungen, seine blauen Augen funkelten empört, widersprach: „Nein, Dad, warum sagst du ihnen nicht, was wirklich passiert ist? Das Internationale Geheimhaltungsabkommen erlaubt die Anwendung von Magie in bestimmten Ausnahmefällen, ich habe es extra nochmal nachgelesen. Du wirst sehen, das gibt mildernde Umstände, sie können dich nicht einsperren.“ - „Ich werde nichts sagen, kein Wort, sollen sie glauben, was sie wollen, ich habe es meinem Kind versprochen, sie bleibt bei uns.“ Jetzt mischte sich die schlanke Frau, die sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, ein. Sie ergriff die Hand ihres Mannes und drückte sie fest. Dann sagte sie mit Stahl in der Stimme: „Meine Tochter wird nicht in der geschlossenen Abteilung von St. Mungo dahinvegetieren bis an ihr Ende. Hier, in unserer Familie soll sie aufwachsen. Vielleicht können wir ihr helfen – im St. Mungo können sie es nicht, da wird sie weggesperrt, damit sie ja nicht gegen das ach so tolle Geheimhaltungsabkommen verstoßen kann.“ Verständnislos, mit einer seltsamen Leere im Blick, schaute das Mädchen von einem zum anderen, dann ging sie auf ihren Vater zu und umarmte ihn. Er nahm sie hoch, wirbelte sie herum, wie er es sicherlich schon oft getan hatte, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf, sie jauchzte und legte ihren Kopf an seine Schulter. Dann setzte er sie vorsichtig auf den Boden, drückte seine Frau an sich, die beiden verständigten sich wortlos, und er ging langsam hinaus. Minerva war klar, er wollte nicht vor den Augen seiner Familie verhaftet werden. Dann wurde es schwarz. Erst nach einigen bangen Augenblicken erkannte Minerva, dass sie sich in einem langen, dunklen Flur befand. Es schien auch ein anderes Haus zu sein. Dann sah sie das Mädchen. Mit sehnsüchtigen Blicken schaute sie nach draußen, in den hellen Sonnenschein. Doch ihre Mutter vertrat ihr den Weg: „Du kannst jetzt nicht raus, bitte versteh das doch.Wir gehen heute Abend spazieren.“ - „Ich will aber jetzt raus! Nie darf ich raus! Du lässt mich nie draußen spielen!“ Sacht streichelte die Mutter der Kleinen über den Kopf, doch das Kind sträubte sich und protestierte: „Warum darf ich nicht raus? Bei Daddy durfte ich immer raus! Wo ist Daddy? Du hast gesagt, er kommt wieder – das war gelogen, jawohl, gelogen!“ Minerva konnte erkennen, dass sich die Augen der Frau mit Tränen füllten, doch sie sagte kein Wort, fasste nur die Hand ihrer Tochter noch fester und versuchte, sie an sich zu drücken. „Ich will, dass Daddy wieder da ist!“ Die Kleine stampfte mit dem Fuß auf und plötzlich brach etwas aus ihr hervor, es war ein mächtiger Strom von Magie, der ihre Mutter zu Boden riss. Erschrocken schrie sie auf. Dann wurde sie von zwei kräftigen Armen festgehalten und es wurde dunkel. Und wieder veränderte sich die Umgebung. Minerva fand sich an derselben Stelle wieder, an der sie in die Erinnerung eingetaucht war. Mit einem Mal war das Bild wieder gestochen scharf. Das Mädchen lag reglos am Boden: Ein Junge mit tränenfeuchten blauen Augen beugte sich über sie und strich ihr mit einer sanften, zärtlichen Geste das Haar aus dem Gesicht: „ Ab, mein Lieblingsbruder... - Mum ... - Daddy ...“ - Dann nichts mehr, nur Dunkelheit. Den Kopf in die Hände gestützt saß Minerva in ihrem Büro und dachte darüber nach, was sie soeben gesehen hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihr klar wurde, dass sie die letzten Augenblicke im Leben von Ariana Dumbledore miterlebt hatte, dass sie eingetaucht war in die Gedanken, die im Moment des Todes an ihr vorübergezogen waren. Daher auch die ungewöhnliche Färbung und die Unschärfe bei den weiter zurückliegenden Erinnerungen. Die beiden Jungen waren Albus und Aberforth, aber wer war der dritte? Und wer hatte das Mädchen getötet? Albus hatte nie über seine Familie gesprochen. War das, was sie eben gesehen hatte, der Grund dafür?
Ihr Blick in die Vergangenheit hatte ihr jedenfalls viel zum Nachdenken gegeben. All das Gerede, Ariana sei eine Squib gewesen und von ihrer herrischen Mutter gefangen gehalten worden, die Gerüchte über den muggelhassenden Vater, der zu Recht bis zu seinem Tod in Askaban saß -, was davon entsprach der Wahrheit – und was war nichts weiter als boshaftes Geschwätz? Grübelnd starrte Minerva auf die Phiole, aus der sie die Erinnerung ins Denkarium gekippt hatte. Sie war noch nicht leer.
Arme Ariana... Ihr Schicksal hat mich auch im Original schon sehr mitgenommen, aber so wie du es geschildert hast - sozusagen fast aus ihrer Sicht - ging es mir sehr an die Nieren.
Ich fand vor allem die Verteufelung von Kendra schlimm, mit all den Gerüchten, sie hätte ihre Squib-Tochter vor aller Welt versteckt, genauso wie die Gerüchte über Dumbledores Vater, den angeblichen Muggelhasser. Das wurde ja nie aufgeklärt.