Entschlossen öffnete Minerva den letzten Verschluss, der sich ganz leicht löste und drehte die Phiole um. Auch wenn es von außen nicht sichtbar war, so schien dies die umfangreichste Erinnerung zu sein, denn sie ergoss sich in einem Schwall in das Becken, das beinahe überschwappte. Vorsichtig rührte sie mit dem Zauberstab um und tauchte in eine längst vergangene Zeit ein: Sie betrat ein tristes, graues Gebäude. Ein Schild an der Tür verriet ihr, dass es sich um ein Waisenhaus handelte. Sie fand sich in einem schäbigen, düsteren Flur wieder. Ein trostloses Ambiente. Wessen Erinnerung mochte das sein? Und warum war sie in dieser Flasche, zusammen mit den letzten Momenten von Ariana? Ihre Schritte hallten auf dem blank gescheuerten Steinfußboden. Dann sah sie Albus Dumbledore, einen viel jüngeren Dumbledore, der zielsicher auf eine Tür am Ende des Korridors zusteuerte. Sie folgte ihm in ein spärlich möbliertes Zimmer und folgte seinem Gespräch mit dem elfjährigen Tom. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Sie zog ihren Umhang fester um sich, als sei es plötzlich kälter geworden in diesem Raum. Bei den Worten: „Sagen Sie die Wahrheit!“ zuckte sie zusammen, sie erschrak genauso wie Tom, als dessen Schrank plötzlich zu brennen begann, doch als Tom versprechen musste, seinen Opfern die entwendeten Gegenstände – Trophäen seiner Macht – zurückzugeben, sah sie das Widerstreben in seinem Gesicht genauso wie das Bemühen, selbiges zu verbergen. Wer war dieser Tom? Ein hübscher Junge, offenbar sehr intelligent – und magisch begabt, und doch – als sie ihn sagen hörte: „Ich kann machen, dass es ihnen weh tut ...“, bekam sie eine Gänsehaut. Etwas schien mit diesem ebenmäßigen Gesicht zu passieren, die Züge zu verzerren, doch vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Dumbledore war ganz ruhig geblieben, er erhob sich von seinem Stuhl und verabschiedete sich. Sie warf noch einen Blick auf den Jungen, dann folgte sie Dumbledore hinaus.
Plötzlich veränderte sich das Bild – ein viel älterer Dumbledore, die rechte Hand verdorrt, stand vor dem Denkarium in seinem Büro, neben ihm Harry Potter, der ihn gerade fragte: „Wussten Sie es - damals?“ - „Dass ich gerade den gefährlichsten schwarzen Magier aller Zeiten kennen gelernt hatte? Nein, ich hatte keine Ahnung, dass er später einmal zu dem werden sollte, was er ist.“ Dumbledore hielt einen Moment inne, als wolle er fortfahren, doch dann schwieg er.
Wieder verschwamm das Bild für einen Moment, und Dumbledores Büro machte wieder jenem tristen Korridor Platz, in dem sie vor wenigen Augenblicken schon einmal gestanden hatte. Minerva fand sich wieder neben dem jüngeren Dumbledore, der gerade die Tür zu Toms Zimmer schloss.
Auf dem Flur kam ihnen ein Mädchen entgegen, sie hatte das Haar zu ganz vielen Zöpfen geflochten, die nach allen Seiten von ihrem Kopf abstanden, was ihr ein ziemlich lustiges Aussehen verlieh. Entschlossen trat sie vor Dumbledore hin und sprach ihn an: „Halten Sie das für eine gute Idee?“ Albus' Blick war ein einziges Fragezeichen. Sie fuhr fort: „Diesem Jungen noch mehr ... - Magie beizubringen?“ Dumbledore schaute sich erschrocken um und Minerva trat einen Schritt zur Seite, aber natürlich konnte er sie gar nicht sehen. Der Korridor war leer, niemand außer ihnen hörte, dass hier über Magie gesprochen wurde. Das Mädchen schien aus Dumbledores Reaktion seine eigenen Schlüsse zu ziehen, denn sie flüsterte hastig und besorgt, dass sie es zuerst nicht glauben wollte, aber Magie die einzig logische Erklärung gewesen sei für all die seltsamen und unerklärlichen Dinge, die um Tom geschahen. Mit ernstem Gesicht und großer Eindringlichkeit, die so gar nicht zu ihrem lustigen Äußeren zu passen schienen schaute sie zu Dumbledore auf: „Hören Sie, dieser Junge ist böse, er genießt es, andere zu quälen, ... dieser Junge ist gefährlich.“ Minerva sah, wie sich Albus väterlich zu ihr hinunterbeugte und beruhigend auf sie einsprach, doch sie ließ sich nicht überzeugen. Mit zornig funkelnden Augen sah sie ihn an: „Sie verstehen überhaupt nichts, er kann diese Kräfte, wie Sie das nennen, sehr wohl beherrschen, er tut anderen damit weh! Und er genießt es! - Die meisten hier haben Angst vor ihm.“ Nun sah Dumbledore interessiert aus: „Aber du nicht, oder?“ Sie warf trotzig den Kopf zurück: „Nein, manchmal glaube ich, er hat Angst vor mir.“ Minerva beobachtete den stummen Blickwechsel zwischen den beiden leicht amüsiert, sie hatte es selten erlebt, dass jemand Dumbledore erfolgreich widersprach und dass er genauso mit Blicken geröntgt wurde, wie er es sonst immer mit seinen Gesprächspartnern tat. Das Mädchen ließ seinen Blick nicht los, als sie schließlich das Schweigen brach, das schon unbehaglich zu werden begann: „Sie müssen mir etwas versprechen: Bitte! Sie müssen die anderen Kinder in Ihrer Schule vor Tom beschützen, versprechen Sie mir das?“ Doch noch bevor Dumbledore ihr eine Antwort gegeben hatte, ließ sie resigniert die Schultern sinken. Ihre Stimme war voller Enttäuschung. „Ich sehe Ihnen an, dass Sie mich nicht ernst nehmen, vielleicht weil Sie so viel älter und erfahrener sind, und weil Sie magische Kräfte haben und ich nicht. Aber glauben Sie mir, dieser Tom ist sehr gefährlich, Sie werden noch an meine Warnung denken – und hoffentlich wird es dann nicht zu spät sein.“ Und wieder wurde das Bild unscharf und veränderte sich, es dauerte einen Moment, bis Minerva klar wurde, dass sie sich in London befand, doch es war nicht das London von heute. Sie erkannte zerstörte Straßenzüge und Trümmer, die Stadt trug noch deutlich erkennbar die Spuren der deutschen Bombenangriffe.Sie schaute sich suchend um erblickte schließlich Albus Dumbledore. Er schien sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut zu fühlen, wirkte irgendwie schuldbewusst, wie er da hin und her tigerte, den Kopf gesenkt und grübelnd vor sich hin murmelnd. Schließlich riss ihn eine energische Stimme aus seiner Grübelei. „Können Sie nicht mal mit dem Herumgerenne aufhören, jetzt setzen Sie sich doch einfach mal hin, kommen Sie, hier ist Platz“ – eine junge Frau zeigte auf die Stufen eines Hauseinganges. „Sie werden sich Ihren Anzug schon nicht ruinieren, und wenn, dann dürfte das doch kein Problem für Sie sein, oder?“ Jetzt konnte Minerva ihr Gesicht erkennen, dieses Funkeln in den grünen Augen ließ keinen Zweifel daran, es war das Mädchen, das Dumbledore vor Tom gewarnt hatte. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten frisiert und ihr Blick schien ihn wieder zu röntgen. Sie setzte sich neben ihn und fragte: „Was ist passiert ? Ich sehe Ihnen doch an, dass etwas passiert ist. Ich habe es auch Tom angesehen. Jetzt bereuen Sie, dass Sie meine Warnung nicht ernst genug genommen haben.“ In ihrer Stimme war keinerlei Triumph, nur eine große Traurigkeit, als sie Dumbledore fragend ansah. „Ein Mädchen ist tot, eine meiner Schülerinnen, und niemand hat eine Erklärung dafür.“ „Sie wissen nicht, w i e er es getan hat, aber Sie sind sich sicher, dass er es getan hat, genau wie ich. Es ist etwas in seinen Augen, genauso war es bei Billys Kaninchen, als er noch klein war, ich kann es nicht erklären, was es ist ...“ - „Er scheint Gefallen zu haben am Töten ...“ Dumbledores Stimme war kaum zu hören, doch die junge Frau widersprach ihm erneut. Nachdenklich legte sie den Kopf zur Seite: „Nein, ich glaube, es ist das Gefühl der Macht, das er genießt, wenn er tötet. Er fühlt sich als Herr über Leben und Tod – und das ist, glaube ich, noch viel gefährlicher.“ Erstaunt sah Dumbledore seine Gesprächspartnerin an.
Minerva hatte ein eigenartiges Gefühl, während sie die beiden beobachtete. Sonst war e r es immer, der die Dinge auf den Punkt brachte, hier jedoch war es diese junge Frau, die ihn so eindringlich mit ihren grünen Augen fixierte, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Und plötzlich – wieso hatte sie das nicht schon viel früher bemerkt – wurde ihr klar, dass sie diesen Blick sehr genau kannte. Diese grünen Augen, die einen förmlich festzuhalten vermochten, sie hatte sie erst vor einigen Wochen das letzte Mal gesehen, im Gesicht einer alten Frau. Diese Augen gehörten Charity Burbage ...