Noch einmal veränderte sich die Szenerie. Es war noch immer das Schulleiterbüro, doch diesmal sah Dumbledore sich wieder eine alte Erinnerung an, und er war nicht allein dabei. Neben ihm saß Harry Potter. Dumbledores Hand war verdorrt, es musste also im letzten Schuljahr gewesen sein. Es klopfte an der Tür – und herein trat jener junge Mann, jener Tom, den er gerade im Gespräch mit Slughorn gesehen hatte. Doch nein, etwas war anders. Die hübschen Gesichtszüge hatten sich verändert, waren seltsam verwischt. „Wie ich höre, sind Sie inzwischen Schulleiter.“ Auch seine Stimme hatte sich verändert, sie war kälter geworden, höher. Snape hielt den Atem an. Er kannte diese Stimme ... „Nun, Tom ... was verschafft mir die Ehre?“ Dumbledores Hand reichte ein Glas Wein herüber. „Man nennt mich nicht mehr Tom. Inzwischen bin ich unter dem Namen ...“ Keuchend atmete Snape aus. Dieser Tom, dieser einstmals so hübsche Junge, das war - ER. Snape hörte der Unterhaltung nicht mehr richtig zu, er sah die beiden nur an und spürte, dass dies eine Form von Kräftemessen war, und er spürte auch, dass eine Spur von Resignation von Dumbledore ausging, als er sagte: „Die Zeiten sind längst vorbei, da ich … Sie zwingen konnte, für Ihre Verbrechen zu bezahlen. Aber ich wünschte, ich könnte es, Tom ...“ „Warum? Warum kam er zurück? Haben Sie das jemals herausgefunden?“ Die Fragen sprudelten geradezu aus Harry heraus. Snape schwirrte der Kopf, er konnte kaum fassen, was er da soeben gesehen hatte. Dumbledore riss sich aus der alten Erinnerung los, er saß allein im Büro, den Kopf in die Hände gestützt, zahlreiche seiner seltsamen blinkenden Instrumente um sich herum und wiederholte Harrys Frage: „Warum?“- „Was hat er wirklich gewollt? Was ist, wenn meine Vermutungen falsch sind? Harry – der Auserwählte – gibt es so etwas wie Schicksal? Wieviel davon liegt wirklich in unserer Hand?“ Er schien so versunken, dass er nicht zu bemerken schien, wie er seine Gedanken leise vor sich hin sprach. Immer noch ganz in Gedanken erhob sich Dumbledore, er verließ sein Büro. Snape folgte ihm durch die Gänge von Hogwarts. Sein Schritt war dabei beinahe beschwingt, jetzt, da er keine hämischen Blicke befürchten musste, weil niemand ihn sehen konnte. Vor dem Büro der Muggelkundelehrerin verhielt Dumbledore seine Schritte, klopfte an und trat ein. Charity freute sich über den Besuch, machte Tee, stellte Kekse auf den Tisch und sagte:„Lang ruhig zu, es wird ja eine längere Unterhaltung, wenn ich mir dich so ansehe.“ Dumbledore schmunzelte: „Dir kann man eben nichts vormachen. Wie machst du das nur?“ - „Aber Albus, ich habe es dir doch schon so oft zu erklären versucht.“ Snape horchte auf. Würde er nun endlich erfahren, wie diese kleine alte Hexe sein größtes Geheimnis erfahren hatte? Doch Charity ging nicht weiter auf diese Frage ein, sie schaute ihren späten Gast an und stellte mit leicht tadelndem Unterton fest: „ Die Sache hat dich doch nicht losgelassen, nicht wahr? Du quälst dich mit der Frage, ob dich all deine Vermutungen auf den richtigen Weg geführt haben, ob du dich nicht vielleicht doch geirrt hast - und ob der Junge bereit ist. Du willst Gewissheit, möchtest gern hören, dass dein und sein Opfer nicht vergebens sein werden, du machst dir Sorgen um diese Schule, um Severus ...“ Snape konnte nicht umhin, er war beeindruckt, wie Charity scheinbar mühelos Gedanken zu lesen schien. Doch Dumbledore schien das überhaupt nicht zu beunruhigen, er schaute sein Gegenüber nur erwartungsvoll an. Doch sie goss ihm Tee nach und stellte dann die Kanne mit einer energischen Bewegung ab. „Albus, du weißt doch ganz genau, dass ich nicht in die Zukunft sehen kann. Ich verstehe ja, dass es dich nach einer Bestätigung verlangt, aber ob deine Ahnungen und Vermutungen richtig sind, - so leid es mir tut, du wirst es in diesem Leben nicht mehr herausfinden, und wenn ich meinen Plan durchführen kann, werde auch ich es nicht mehr erfahren. Wir werden beide tot sein, bevor diesem psychopathischen Massenmörder das Handwerk gelegt wird. Und all seine Anhänger, von denen viele nicht weniger gefährlich sind ...“, sie strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn, „... das wird noch ein langer Weg, Albus. Uns bleibt nichts anderes übrig als zu hoffen, dass andere ihn fortsetzen werden.“ Dumbledore runzelte die Stirn, schob seine Brille zurecht und streichelte gedankenverloren Charitys kleine graue Katze. Doch die entwand sich seinen Fingern, sprang auf eines der Regale an der Wand, schob vorsichtig mit ihrem Kopf den Deckel von einer der Dosen und angelte mit der Pfote darin herum und warf etwas daraus auf den Teppich. Wie ein Blitz sprang sie hinterher und es knackte zwischen ihren Zähnen. Dann sprang sie auf Charitys Schoß und ließ sich streicheln. „Albus, eines kann ich dir mit großer Sicherheit sagen: Harry Potter ist fest entschlossen. Er wird alles tun, um diesen Tom zu besiegen. Und er wird dabei nicht allein sein. Ich habe dieselbe Hingabe, dieselbe unbedingte Entschlossenheit, in den Augen seiner Freunde gesehen, obwohl ihnen offenbar noch nicht völlig klar ist, dass sie eine schier unlösbare Aufgabe vor sich haben.“ Dumbledore beugte sich vor und sagte mit verschwörerischer Miene: „Ich glaube, deine Idee, tief in Riddles Vergangenheit nachzuforschen, Ereignisse und Orte zu finden, an denen er als Junge besondere Macht über andere ausgeübt hat, hat mich einen weiteren aufspüren lassen.“ Aufgeregt unterbrach ihn Charity: „Ist es diese Höhle am Meer?“ Dumbledore nickte: „Harry hat mich gefragt, ob er mitkommen darf, wenn ich versuche, ihn an mich zu nehmen. Du hast Recht, Charity, der Junge ist entschlossen, ich habe ihm versprochen, dass er mitkommen darf.“ - „Der Auserwählte... , wenn man dem Tagespropheten glauben darf...“ Charity lehnte sich zurück und fügte leise hinzu: „Ich glaube ja, dass es darauf überhaupt nicht ankommt. Wichtig ist doch nur, wie er selbst zu dieser Sache steht, oder?“ Dumbledore nickte. Mit einem Lächeln flüsterte Charity: „Weißt du, Albus, dass ich mich auch einmal für auserwählt gehalten habe? Ich glaube, ich habe das noch nie jemandem erzählt, aber ich habe diesen Gedanken viele Jahre als innere Überzeugung in mir bewahrt, und wer weiß, vielleicht ist ja doch etwas dran ...“ Sie goss sich etwas Tee nach und setzte hinzu: „Nicht, dass du jetzt denkst, ich hielte mich für etwas Besonderes -“, Albus unterbrach sie lächelnd: „Aber du bist etwas Besonderes!“ - „Jeder Mensch ist etwas Besonderes, Albus, so habe ich das nicht gemeint mit dem Auserwählt-Sein.“ Dumbledore hatte sich wieder bequem hingesetzt. „Langweile ich dich auch nicht mit diesen alten Geschichten?“, vergewisserte sich Charity leise. “Du erinnerst dich sicher noch, wie du mir vor vielen Jahren von einer für dich schrecklichen Erinnerung erzählt hast. Ich sehe diesen jungen Albus vor mir, wie er da steht und mit zuckenden Schultern eine kleine Phiole an sich drückt. Dein Körper hat damals schon gewusst, was ich dir erst viel später erklärt habe, dass diese Erinnerung, so schlimm sie auch für dich sein mag, eine Kostbarkeit ist, etwas, worum ich dich sogar beneiden könnte ...
Weißt du, Albus, jedes Waisenkind träumt davon, seine Eltern zu finden, von dort weggeholt zu werden, zu erfahren, dass alles nur ein Irrtum war und jemand nur darauf wartet, einen in den Arm zu nehmen und zu lieben. Wir alle träumten irgendwie von einem richtigen Zuhause. Manchmal ist es aber für die seelische Gesundheit eines Kindes besser, wenn es die Wahrheit erfährt, zumindest weiß ich, dass eine der Schwestern, die dort arbeiteten, so dachte. Sie war eine sehr gläubige Frau, und sie nahm mich eines Tages beiseite und erklärte mir, nicht ohne eine gewisse Ergriffenheit und den Verweis auf Gottes Fügungen, was man über meine Herkunft in Erfahrung gebracht hatte. Das Heim war damals überbelegt und derartige Nachforschungen nach Angehörigen, die man möglicherweise in die Pflicht nehmen konnte, wurden von der Heimleitung unterstützt. Ich erzähle dir diese Geschichte zum besseren Verständnis der Reihe nach, nicht so, wie ich Bruchstück für Bruchstück, Puzzleteilchen für Puzzleteilchen in Erfahrung gebracht habe.