Als er am nächsten Morgen erwachte, mit erholtem Geist und etwas schmerzenden Gliedern – warum hatte er eigentlich im Sitzen in seinem Sessel geschlafen? - beschloss er, sich noch einige der Erinnerungen anzusehen, von denen Dumbledore gemeint hatte, sie könnten lehrreich sein. Doch womit beginnen? Er las die Beschriftungen sorgfältig durch. Sein Blick blieb an einem seltsam geformten Fläschchen hängen, das mit ebenso seltsamen Worten beschriftet war: „Schicksal – Vorbestimmung – Planung – oder einfach nur Zufälle? Eine Suche“ Snape gab die Substanz aus der Phiole vorsichtig in das runenverzierte Steinbecken, berührte sie kurz mit seinem Zauberstab und tauchte neugierig hinein.
Dumbledore saß vor dem Denkarium und betrachtete eine alte Erinnerung. Auf einem trostlosen, düsteren Flur sprach ihn ein Mädchen an: „Halten Sie das für eine gute Idee? Diesem Jungen noch mehr Magie beizubringen?“ Dumbledore sah sich erschrocken um, doch außer den beiden war niemand zu sehen. „Sie müssen mir etwas versprechen: Bitte! Sie müssen die anderen Kinder in Ihrer Schule vor Tom beschützen, versprechen Sie mir das? Glauben Sie mir, dieser Tom ist sehr gefährlich, Sie werden noch an meine Warnung denken – und hoffentlich wird es dann nicht zu spät sein.“ Das Bild veränderte sich, eine junge Frau, das Haar zu einem strengen Knoten frisiert: „Sie haben mir versprochen, Ihre Schüler vor diesem Jungen zu beschützen. Sie haben mich nicht ernst genommen...“ Dumbledore flüsterte: „Ein Mädchen ist tot, eine meiner Schülerinnen, und niemand hat eine Erklärung dafür.“ „Sie wissen nicht, w i e er es getan hat, aber Sie sind sich sicher, dass er es getan hat, genau wie ich. Es ist etwas in seinen Augen ...“ Snape musste sich sehr anstrengen, um Dumbledores nächste Worte zu hören. „Er scheint Gefallen zu haben am Töten ...“ - „Nein, ich glaube, es ist das Gefühl der Macht, das er genießt, wenn er tötet. Er fühlt sich als Herr über Leben und Tod – und das ist, glaube ich, noch viel gefährlicher.“ Erstaunt sah Dumbledore seine Gesprächspartnerin an und jetzt erkannte Snape, dass es das Mädchen von vorhin war, nur einige Jahre älter. Wieso kamen ihm diese Augen nur so bekannt vor? Diese Erinnerung musste schon sehr alt sein, denn Dumbledore war darin noch jung, sein Haar und sein Bart hatten noch keine Spur von Weiß. Und wieder veränderte sich das Bild, und wieder sprach die junge Frau: „Krieg ist etwas Schreckliches, er zwingt harmlose, friedfertige Menschen, Dinge zu tun, die sie nie für möglich gehalten hätten, Dinge mit anzusehen, die sie ihr Leben lang nie wieder loslassen werden. Sprechen Sie sich aus, niemand wird davon erfahren, Ihr Geheimnis ist bei mir sicher, so wie die Geheimnisse so vieler anderer, die sich mir anvertraut haben.“
Als hätte Dumbledore genau auf diese Worte gewartet, stand er entschlossen auf und murmelte vor sich hin: „Ich werde sie aufsuchen, ich muss es ganz genau wissen. So viele Jahre ... Warum habe ich nicht früher an sie gedacht?“
Diesmal war die Veränderung anders. Es war ein ganz und gar eigenartiges Gefühl, es kam Snape so vor, als sei alles, was er nun sah, eine Art bewegtes Bild, wie ein Abbild einer Erinnerung. Zwei junge Leute standen einander gegenüber. Die junge Frau aus der letzten Erinnerung und ein ausgesprochen gut aussehender junger Mann. Snape musterte ihn interessiert: Wache, intelligente Augen, eine sehr stolze Haltung, eine aristokratische Blässe, sehr feingliedrige, gepflegte Hände, die mit einem offenbar antiken Ring spielten. Der Stein kam ihm bekannt vor. Wo hatte er so etwas nur schon gesehen? Es wollte ihm einfach nicht einfallen. Der Junge fragte mit leichtem Spott in der Stimme: „Nun, hast du deine Eltern gefunden?“ - „Ich weiß nun ganz sicher, dass meine Mutter wenige Tage nach meiner Geburt gestorben ist.“ - „Und dein Vater?“ - „Sie hat einen Brief hinterlassen, in dem sein Name gestanden haben soll, doch davon ist nur ein Schnipselchen übrig geblieben, Mrs. Cole hat es mir gezeigt. Mehr werde ich wohl nie erfahren. Und du – bist du vor deinen Vater hin getreten?“ - „Oh ja, ich bin vor ihn hin getreten...“ Er spielte mit dem Ring an seiner Hand und sagte leichthin: „Ein altes Familienerbstück.“ Die junge Frau schauderte. „Was hast du getan, Tom?“ - „Ich sagte doch, ich bin vor ihn hin getreten.“
Dumbledore schien aufgeregt. Jetzt sah alles wieder aus, wie es Snape aus dem Denkarium vertraut war, es schien – lebendiger. „Kannst du mir diesen Ring genau beschreiben?“ „Oh, das ist schon so lange her, aber ich glaube, es war eine Gravur auf dem Stein. Er war schwarz, wie für einen Mann gemacht, es war, glaube ich, ein einfaches geometrisches Muster. Ein Dreieck, genau in der Mitte geteilt, das einen Kreis umschließt.“- „Sah es so aus?“, Dumbledore skizzierte es auf einem Blatt Papier. „Ja, genau so.“ - „Und er hat gesagt, es sei ein altes Familienerbstück?“ - „Genau das waren seine Worte – und ich bin mir sicher, er hat seinen Vater getötet“, flüsterte die Frau, nun nicht mehr jung, sondern mit weißem Haar – und nun endlich erkannte Snape sie. Es war Charity Burbage. Doch wer war dieser hübsche Junge, dieser Tom, von dem sie glaubte, er habe seinen Vater getötet? „Wie hast du es herausgefunden? Du musst wissen, er hat tatsächlich seinen Vater getötet, und außerdem noch seine Großeltern.“ Entsetzt schaute Charity hoch: „Und er ist nie dafür bestraft worden, auch nicht bei Ihnen?“ Resigniert entgegnete Dumbledore: „Ein anderer hat, in der Überzeugung, diese Morde begangen zu haben, die Tat gestanden und den Rest seines Lebens im Gefängnis verbracht. Ich weiß es erst seit kurzer Zeit, aber wie um alles in der Welt hast du es herausgefunden?“ - „Ich kann das nicht erklären, es war etwas in seinen Augen, wie damals, als dieses Mädchen aus Ihrer Schule gestorben ist. Natürlich gibt es keine Beweise, aber die Art, wie er diese Worte ausgesprochen hat: 'Ja, ich bin vor ihn hin getreten!' - mir ist es eiskalt den Rücken heruntergelaufen. Und er wusste es. Er hat seitdem immer vermieden, mit mir zu sprechen. Hätte man ihn nur damals aufhalten können! Albus, warum hast du ihm nicht Einhalt geboten, damals?“ - „Ich glaube, jeder hat eine zweite Chance verdient, ich hoffte damals, er habe sich geändert.“ Charity schüttelte den Kopf. Und wieder veränderte sich das Bild, Snape fand sich in einem Lehrerbüro in Hogwarts wieder, und nun, da er ihn von vorn sah, erkannte er Horace Slughorn. In der Gruppe der Schüler die offenbar gerade im Begriff waren, sich zu verabschieden, stand auch der hübsche Junge, den er eben schon in einer anderen Erinnerung gesehen hatte – und er trug den Ring am Finger, für den Dumbledore viele Jahre später ein solch ungewöhnliches Interesse gezeigt hatte. Und jetzt erkannte Snape ihn wieder – es war der Ring, den der ehemalige Schulleiter hier in diesem Büro versucht hatte zu spalten, mit dem Schwert von Gryffindor. Jener Ring, auf dem ein solch starker, letztlich tödlicher Fluch gelegen hatte, dass selbst all sein Wissen über schwarze Magie Dumbledore nicht retten konnte. Und doch hatte jener immer den Eindruck gemacht, dass es ihm weder um seine verdorrte Hand, noch um sein Leben leid getan hatte, ja er hatte sogar einmal etwas in der Art geäußert, dass es das wert gewesen sei. Offenbar hatte Charity Bescheid gewusst, sie wusste, was es mit diesem Ring auf sich hatte. Snape hatte das Gefühl, als würde ihm nur noch ein winziges Puzzleteil fehlen, dann würde er auch endlich verstehen, was das alles bedeutete und weshalb er Potter das Schwert geben sollte.