Ja, Dumbledore hatte tatsächlich Tränen in den Augen, als er Charity ein kleines, silbrig glänzendes Fläschchen zeigte. Minerva hatte nicht genau verstanden, was Dumbledore Charity erzählt hatte, doch sie erkannte das Fläschchen. Sie hatte es schon einmal gesehen. Der junge Albus Dumbledore hatte es an sich gedrückt, während sein Körper von stummen Schluchzern geschüttelt wurde. Ja, sie hatte sogar gesehen, was es enthielt. Charity berührte die Phiole ganz vorsichtig. Dann griff sie nach Dumbledores Hand und sah ihm in die Augen: „Und Sie haben es sich nie angesehen?“ „Nie“, entgegnete Albus mit erstickter Stimme. „Und jetzt fürchten Sie, wenn Sie Ihren alten Freund treffen, er könnte Ihnen eröffnen, dass Sie es waren, der ihr den tödlichen Schlag versetzt hat?“ Dumbledore nickte. „Und all die Jahre haben Sie es nicht gewusst?“ - „Ich habe mich davor gefürchtet.“ Charity nickte. Sie schaute ihn fest an: „Mr. Dumbledore, was ich Ihnen jetzt sage, wird Ihnen vielleicht nicht gefallen, aber ich bin nicht gut im Lügen, ich werde Ihnen sagen, was ich denke, schließlich wollten Sie ja meine Meinung hören.“ Sie setzte sich aufrecht hin und zeigte auf das Fläschchen. „Sie sollten es sich ansehen, so bald wie möglich. Schieben Sie es nicht länger vor sich her, dies nicht und auch nicht die – vielleicht letzte – Begegnung mit diesem Gellert. Jeder Tag, den Sie zögern, kostet vielleicht Menschenleben. Das können und wollen Sie sich doch nicht auf die Seele laden. Und wie ich vorhin schon sagte – ich sehe es Ihnen an, im Grunde haben Sie Ihre Entscheidung bereits getroffen. Ich sage Ihnen jetzt etwas, was ich einmal von einem schwer verwundeten Soldaten gehört habe: Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern die Erkenntnis, dass etwas anderes wichtiger ist als die Angst. Dieser Satz stammt von einem deutschen Arzt, und ich denke, genau das muss Ihnen klar sein: Ihre Ängste, so wichtig und bedeutsam sie für Sie sein mögen, sind klein im Vergleich zu den vielen Menschenleben, die Sie mit einem noch längeren Hinauszögern in Gefahr bringen. Sie können es beenden, also tun Sie es. So bald wie möglich. Sie dürfen nicht länger zögern! Gerade weil er Ihr Freund war. Es ist Ihre verdammte Pflicht! Ihre Schwester konnten Sie nicht retten, aber Sie können unzählige andere Menschen vor dem Tod bewahren. Sie sind es ihrem Andenken schuldig.“ Beider Blicke wanderten in Richtung der Phiole. Dumbledore seufzte. „Sie haben Recht, Charity, wie immer ...“ „Lassen Sie mich noch eines sagen, auch wenn Sie es nicht gern hören werden, Sie haben in Ihrer Jugend einen schrecklichen Fehler gemacht. Sie haben einen falschen Weg beschritten und diese Entscheidung, ob Sie nun tatsächlich der Mörder Ihrer Schwester sind oder nicht, wird den Rest Ihres Lebens bestimmen.“ Dumbledore zuckte leicht zusammen bei diesen schonungslosen Worten. „Es liegt an Ihnen, wie sie es tut.“ Eindringlich sah sie ihn an, er wirkte unsicher, sein Blick zeigte Verständnislosigkeit. Also fuhr Charity mit energischer Stimme fort: „Es ist doch ganz klar: Sie dürfen nicht zulassen, dass diese Erinnerung Ihr gesamtes weiteres Leben vergiftet. Sie wollen nicht, dass irgendjemand davon erfährt – das verstehe ich, es ist Scham. Es ist gut, dass Sie so empfinden, es zeigt, dass Sie wahrhaft umgekehrt sind, dass Ihre Reue echt ist. Man sagt, dass die Toten alles wissen. Wenn das wahr ist, dann wird Ariana Ihnen vergeben haben, sie wird wissen, wie leid es Ihnen tut, dass Sie nicht für sie da waren, als sie Sie gebraucht hat. Jetzt aber ist es wichtig, dass Sie sich selbst vergeben. Sie wissen, was zu tun ist, Sie können es nicht länger hinauszögern – es sterben immer mehr Menschen, Sie müssen sich Ihren Ängsten stellen. Sie denken doch jetzt schon, Sie könnten sie getötet haben. Wenn Sie Gewissheit hätten – könnte es dann für Sie wirklich noch schlimmer werden? Ich glaube nicht. Sie müssen es tun, Mr. Dumbledore. Wer außer Ihnen könnte ihm sonst Einhalt gebieten? Oder glauben Sie, Sie könnten nicht gut genug gegen ihn kämpfen, weil er Ihr Freund war? Jetzt könnte ich sagen: Es ist für das größere Wohl ... Wenn Sie ihm gegenübertreten, dann dürfen Sie nicht den Jungen aus Ihren Jugendtagen in ihm sehen, sondern nur die Bedrohung, die er jetzt für alle ist. Sie haben sich beide verändert – jeder ist seinen Weg gegangen – jeder in eine andere Richtung. Sie haben sich weit voneinander entfernt, sehr weit. Und Sie müssen ihn ja nicht töten, ich spüre, dass Ihnen allein der Gedanke daran zuwider ist, Sie müssen ihn nur aufhalten.“
Gebannt hörte Minerva zu, sie hatte bei den letzten Worten eine Gänsehaut bekommen. Fröstelnd zog sie ihren Umhang fester zu. Charity griff mit beiden Händen nach Dumbledores Hand, die immer noch das Fläschchen umklammert hielt. Mit strenger Stimme forderte sie: „ Und es gibt noch etwas, was zu tun ist und nicht aufgeschoben werden sollte. Sie müssen sich mit Ihrem Bruder aussöhnen. Sie sind der ältere, Sie müssen den ersten Schritt tun. Gerade weil Ihnen ein gefährliches Duell bevorsteht. Sie sollten es am besten gleich tun, sobald wir mit dem Essen fertig sind. Er wohnt doch hier, oder?“ Minerva musste ein wenig schmunzeln, als sie bemerkte, wie dieses kleine, schmächtige Persönchen den großen Albus Dumbledore herumkommandierte wie einen kleinen Jungen. Er machte ein gequältes Gesicht, aber sie war unerbittlich: „Wir gehen nachher zusammen zu ihm, glauben Sie mir, Sie werden sich hinterher viel besser fühlen. Natürlich wird es unangenehm, Sie haben sich viel zu lange vor dieser Aussprache gedrückt. Sie sollten froh sein, dass Sie noch einen Bruder haben, Sie müssen zusammenhalten, er ist doch alles, was Ihnen von Ihrer Familie geblieben ist – außer den Erinnerungen. Am besten, Sie sehen sich das gemeinsam an“, sagte sie mit einem Blick auf die Phiole. „Ich weiß, es wird weh tun, aber Sie können mir glauben, es wird Ihnen helfen.“ - „Ich glaube nicht, dass Aberforth mir je verzeihen wird.“ Dumbledores Stimme klang verzagt. „Sie werden es nie erfahren, wenn Sie es nicht wenigstens versuchen!“ Doch jetzt lassen Sie uns essen, bevor es kalt wird. Mit großem Appetit schaufelte das schmächtige junge Ding eine riesige Portion Gemüse, Kartoffeln und Salat in sich hinein. Dankbar lächelte sie Dumbledore an: „Die Küche ist ausgezeichnet. Ich habe lange nicht mehr so gut und reichlich gegessen. Vielen Dank.“ Dumbledore tuschelte kurz mit der Wirtin und gab Charity dann ein kleines Fläschchen, das mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt war. „Das ist für nachher, gegen die Übelkeit nach dem Apparieren, ein reiner Kräutersud – und ganz ohne Alkohol, damit es keinen Ärger mit der Oberschwester gibt.“ Dumbledore lächelte. „Und nun lassen Sie uns zu Ihrem Bruder gehen, danach können Sie mich zurückbringen.“ Sie verließen die „Drei Besen“ und entfernten sich in Richtung „Eberkopf“.
Zurück in ihrem Büro schwirrte Minerva noch ein wenig der Kopf. Sie musste das Gesehene erst einmal verdauen, musste genau überlegen, was sie gesehen und gehört und was nur vermutet hatte. Sie stützte den Kopf in die Hände und sah aus dem Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen brachen sich in den Scheiben und fielen auf ein unscheinbares Büchlein, das sie aus Charitys Büro mitgebracht hatte. Es enthielt handschriftliche Notizen und schien eine Mischung aus Kalender und Tagebuch zu sein. Sie blätterte gedankenverloren darin herum. Die Aufzeichnungen begannen an Halloween des letzten Jahres und endeten abrupt Anfang Juli. Bereits die ersten Sätze auf der ersten Seite, in denen sie ihre ersten Eindrücke von Hogwarts festgehalten hatte, beseitigten auch noch den letzten Rest von Zweifel. Charity Burbage war tatsächlich ein Muggel. Und Minerva empfand beinahe etwas wie Hochachtung vor dieser kleinen alten Frau, die alle in Hogwarts fast ein ganzes Jahr lang hatte darüber hinwegtäuschen können, dass sie gar keine Hexe war. Sie erinnerte sich an ihre letzte Begegnung. Natürlich, Charity hatte es ihr anvertrauen wollen, doch sie waren durch die Ankunft des Waldkauzes mit dem Brief unterbrochen worden – und später hatten sie keine Gelegenheit mehr gehabt miteinander zu sprechen. So hatte Charity ihr Geheimnis schließlich mit ins Grab genommen. Und sie selbst – was würde sie tun mit all diesen Informationen? Ob Snape es wusste? Sie hatte das Gefühl, dass er ihr etwas verschwieg, dass er weit mehr über Charitys Tod wusste, als er gesagt hatte. Nein! Sie setzte sich entschlossen auf, von ihr würde niemand etwas darüber erfahren. Charitys Geheimnis war jetzt auch ihr Geheimnis. Sorgfältig verschloss sie die Truhe mit den Erinnerungen und versiegelte ihr Büro. Dann machte sie sich auf den Weg in die Große Halle. Es war höchste Zeit für ein kräftiges Frühstück.