Snape rannte. Schneller und schneller, mit weiten, ausgreifenden Schritten. Sein Umhang bauschte sich im Wind, so dass er aussah wie eine riesige Fledermaus. Hart schlug sein Herz gegen die Rippen, seine Lungen barsten fast, er keuchte vor Erschöpfung, doch er kam seinem Ziel kaum näher. Je schneller er rannte, desto weiter entfernte sich die kleine Gestalt von ihm, die er doch unbedingt erreichen musste. Nichts war wichtiger, nichts dringender, er musste sie unbedingt warnen, doch trotz aller Anstrengungen gelang es ihm nicht, in ihre Nähe zu kommen. Vor ihm in der Luft segelte ein Blatt Papier, die Menschen auf den Bildern darin bewegten sich, er erkannte Emmeline Vance, deren Haar zerzaust war wie von einem Sturm, plötzlich wurde das Gesicht immer größer, es verwandelte sich – Amelia Bones schaute ihn vorwurfsvoll an: „Und Dumbledore hat immer gesagt, wir sollten dir vertrauen ...“ Ihre Augen wurden größer und größer, schließlich wurden sie zu riesigen rötlichen Schlitzen und Nagini schlang ihren Körper um ihn, presste ihn zusammen, schnürte ihm die Luft ab. Sie zischte – und plötzlich hörte er Voldemorts Stimme: „... mein treuester und ergebenster Diener … bringt mir Potter!“ Snape atmete durch. Der Druck des Schlangenkörpers hatte nachgelassen, Nagini kroch zu ihrem Herrn und richtete sich neben ihm auf, bis ihre Köpfe fast auf gleicher Höhe waren. Voldemort fixierte Snape mit seinem durchdringenden Blick, als wolle er alle Gedanken aus ihm heraussaugen. „Was verbirgst du vor deinem Herrn und Meister, Severus? Du hast doch nicht etwa Geheimnisse vor mir? Zitterst du etwa, Severus Snape?“ Snape wollte diesen stechenden Augen entfliehen, aber er konnte den Blick nicht abwenden, dabei musste er doch ganz dringend eine Warnung überbringen, er war so schnell gelaufen – und dann hatte ihn Nagini aufgehalten – und Voldemort. Die Gestalt, die einzuholen ihm nun nicht mehr gelingen würde, verschwand am Horizont, doch er konnte sie nun ganz deutlich erkennen. Ihre grünen Augen blitzten ihn an: „Ich verstehe nicht, wie du mit diesen Typen abhängen kannst, die sind doch krank.“ Plötzlich wurde ihr Körper an den Füßen emporgerissen und begann sich zu drehen. Das Gesicht verwandelte sich. Es war das Antlitz einer alten Frau, der die Tränen in die grauen Haare liefen. Ihre Augen trafen die seinen und sie flüsterte: “Severus, bitte ...“ Doch da schlug ihr lebloser Körper schon auf einen großen Tisch auf und Nagini glitt geschmeidig auf die Leiche zu, mit weit aufgerissenem Rachen ... „Nein ...!“ Der Schrei blieb ihm im Hals stecken. Schweißgebadet erwachte er. Er erhob sich rasch, schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht und schaute in den Spiegel. Wer bist du, Severus Snape? Alle halten dich für den treuesten Handlanger des Dunklen Lords, seine rechte Hand, den Mörder seines größten Widersachers ... Wieviel davon war noch Maske, wie weit war er selbst schon zum wahren Todesser geworden? Was hatte er nicht alles tun müssen, nur um seine Tarnung aufrecht zu erhalten? War es noch Tarnung – oder war es etwa schon zu einem Teil seiner selbst geworden? Als junger Mann war er begeistert gewesen von Voldemort, er hatte es gar nicht abwarten können, das Dunkle Mal zu bekommen. Angewidert starrte er auf seinen linken Unterarm. Wie hatte er nur jemals davon fasziniert sein können? Genau diese Frage hatte ihm Lily einst gestellt, seine Lily ... Der Gedanke an sie schien an seinen Eingeweiden zu reißen, er war immer wie ein Anker gewesen, der ihn im Leben gehalten hatte, auch wenn er schmerzhaft ins Fleisch schnitt. Auch nach all diesen Jahren tat es weh, an sie zu denken – und doch – beim Blick auf das Denkarium wurde er sich endgültig dessen bewusst, wollte er die Gedanken an sie nicht missen, sich nicht von ihnen befreien. Es war, als würde nur dieser Schmerz ihm klarmachen, wer er war. Warum tue ich mir das alles an? Wozu quäle ich mich so? Wofür das alles? Warum nicht einfach einen gut gezielten Avada Kedavra auf den Tischherren – und alles wäre vorbei ... Natürlich würde er danach nicht mehr lange leben, aber wozu auch, wozu noch …? Wahrscheinlich würde Bellatrix ihn erledigen – in Sekundenschnelle? Wohl eher nicht. „Bellatrix, die gerne mit ihrem Essen spielt ...“ - so hatte Albus es formuliert. In diesem Moment beneidete er Dumbledore um seinen Tod, zum ersten Mal glaubte er wirklich, dass er ihm einen Gefallen getan hatte. Dumbledore – er hatte ihm damals mit großer Eindringlichkeit davon abgeraten, jemals selbst zu versuchen, Voldemort zu töten, hatte ihm erklärt, dass ihm das niemals gelingen könnte. Es hatte irgendwie mit diesem Potter zu tun doch weiter hatte er nichts preisgegeben. Er musste unbedingt mehr darüber erfahren. Was machte Potter? Was hatte Dumbledore ihm aufgetragen? Er schaute Phineas Nigelus' Portrait an: „Würden Sie für mich in das Haus am Grimauldplatz zu Ihrem dortigen Portrait gehen und herausfinden, was Potter vorhat? Wie kann ich für seinen Schutz sorgen, wenn ich weder weiß, wo er ist, noch ahne, was er tun wird?“ Phineas blinzelte verschlafen, machte aber keinen Versuch zu widersprechen. Er verließ sein Portrait, kehrte jedoch schon nach ein paar Minuten mit hängenden Schultern zurück: „ Es tut mir leid, Prof. Snape, ich kann Ihnen nicht helfen.“ Neben Bedauern klang auch heftige Entrüstung in Phineas' Stimme mit: „Stellen Sie sich vor, dieses Schlammblut Granger hat mein Portrait aus dem ehrwürdigen Hause Black einfach in ihre Tasche gestopft. Ich konnte nichts, aber auch gar nichts erkennen.“ „Ich wäre Ihnen trotzdem dankbar, wenn Sie Ihr anderes Portrait von Zeit zu Zeit aufsuchen würden, vielleicht erfahren Sie doch noch etwas Nützliches. Und noch etwas – Sie sollten Miss Granger nicht Schlammblut nennen.“ Mit einem unwirschen Gemurmel, das man nur mit sehr viel gutem Willen als Zustimmung deuten konnte, drehte sich Phineas in seinem Rahmen um und schloss die Augen. Snape konnte nicht umhin, Miss Grangers Tun zu bewundern. Natürlich wusste sie von der Verbindung zwischen seinem Büro und dem Grimauldplatz. Potter hatte offensichtlich aus der Zeitung von seiner Ernennung zum Schulleiter erfahren und sie hatte alles getan, um ihm den Einblick in ihren offensichtlichen Unterschlupf zu verwehren. Selbstverständlich, wo sie ihn doch für ihren größten Feind halten mussten, für Dumbledores Mörder ... Also musste er doch den anderen Weg wählen, sich Informationen zu beschaffen. Entschlossen wandte er sich zur Tür. Wie ausgestorben lagen die Korridore vor ihm, die Schüler waren alle im Unterricht, seine Kollegen ebenfalls. Vor McGonagalls Büro hielt er kurz inne und sah sich um. Er versuchte erst gar nicht, herauszufinden, welche Schutzzauber sie verwendet hatte, stattdessen schüttelte er seinen Ärmel hoch, berührte die Tür mit seinem Dunklen Mal und trat ein, als wäre die gut gesicherte Eichentür nur ein Trugbild. Er schwankte leicht, als er in dem leeren Büro stand. McGonagalls Schutzzauber waren sehr stark gewesen. Ganz automatisch setzte er sich auf den modernen Drehstuhl, den Minerva aus Charitys Büro geholt hatte. Er lehnte sich zurück und staunte, wie bequem er darin saß. Auf dem Tisch lag – auf der letzten Seite aufgeschlagen – Charitys Notizbuch. Er warf einen Blick darauf und erstarrte, denn sofort sprangen ihm die Worte Schuld und Reue in die Augen.