Meine Mutter war schon schwanger, als ihr Freund, der sie heiraten wollte, ihr eröffnete, dass er sich nicht gegen seine Familie stellen könne. Er schlug ihr allen Ernstes vor, als Hausangestellte bei ihm zu bleiben und das „Verhältnis“, wie er es nannte, fortzusetzen, wenn sie das leidige Problem – mich – aus der Welt geschafft hätte. Er gab ihr Geld und eine Adresse in London, damit sie „es“ wegmachen lasse. Sie ist auch tatsächlich dorthin gefahren, doch als sie vor dem besagten Haus stand, bekam sie es mit der Angst. Sie war ein gläubiger Mensch, was sie getan hatte, war sündig, aber was sie nun im Begriff war zu tun, war eine viel größere Sünde – und es war strafbar. Also beschloss sie, das Kind zu bekommen. So entging ich das erste Mal dem Tod. Die Geburt war schwer, der Arzt soll gesagt haben, er könne nicht beide retten, man hielt mich schon für tot, doch ich blieb am Leben, während meine Mutter wenige Tage später starb. So war ich das zweite Mal dem Tod entgangen. Die Frau, die sich um meine Mutter gekümmert hatte - und auch um mich, musste kurze Zeit später die Stadt verlassen. ( Ich glaube, als sie mir Jahre später davon erzählte, hat sie die Umstände ein wenig zu ihren Gunsten verändert, doch das spielt keine Rolle.) Sie legte mich – in eine Decke und ein paar Tücher gewickelt, einen Brief meiner Mutter in die Decke mit eingepackt – auf die Treppe der kleinen Kirche. Die Ratten vom Fluss müssen dieses Bündel für ein Festmahl gehalten haben ...“ Charity entblößte ihren linken Unterarm und Snape zuckte zusammen, als er die furchtbaren Narben sah. Auch in Dumbledores Gesicht zeigte sich Entsetzen, er schaute sie erschrocken an, doch Charity fuhr fort, ohne darauf zu achten: „Und hier nun entging ich ein drittes Mal dem Tod, denn der Kater der Pfarrersköchin und eine kleine Streunerin lieferten sich einen heftigen Kampf mit meinen Peinigern. Die Pfarrersköchin soll am nächsten Morgen in Ohnmacht gefallen sein, als sie die Tür aufmachte und vier tote Ratten auf der Treppe liegen sah, unweit daneben ihren Kater und eine fremde Katze neben einem kleinen Bündel, aus dem ein ganz leises Wimmern drang. Tja, die beiden Katzen haben mir das Leben gerettet, sie haben die Wunden geleckt und mich gewärmt. Der Arm sah schrecklich aus, man brachte mich zu einem Arzt, der allerdings nicht viel Hoffnung hatte. Ich bekam hohes Fieber, die Wunden hatten sich entzündet und ich war sehr schwach. Doch noch einmal entging ich dem Tod und kam schließlich ins Waisenhaus von Mrs. Cole, wo wir beide uns das erste Mal begegnet sind. Kannst du dir vorstellen, was diese Geschichte für einen Eindruck auf mich gemacht hat? So viele Hindernisse auf dem Weg ins Leben – so viele Gelegenheiten, den Tod zu finden, und doch lebte ich. Ja, ich glaubte, das müsse einen Sinn haben, vielleicht hatte das Schicksal etwas Besonderes mit mir vor. Ja, ich hielt mich für auserwählt. Damals gab mir dieser Gedanke Kraft; in schier aussichtslosen Situationen habe ich mich daran festgehalten, auch wenn ich heute natürlich weiß, dass das alles nur eine Abfolge von Zufällen war, die nichts bedeuten, - damals fand ich Halt an dieser Idee. Ich, ein unbedeutendes kleines Mädchen, bestimmt zu etwas Großem ... - na, d u kannst dir bestimmt sehr gut vorstellen, wie ich mich damals gefühlt habe: Charity – die Auserwählte ...“ Sie schüttelte den Kopf. Dumbledore fragte nach: „Und dein Vater? Hast du jemals etwas über ihn herausgefunden?“ „Weißt du, Albus, das war eigenartig. Nachdem ich sicher wusste, dass meine Mutter tot ist und mein Vater mich nicht gewollt hat, habe ich aufgehört, mich für ihn zu interessieren. Das war übrigens der große Unterschied zwischen Tom und mir in dieser Frage. Während mir dieser Vater, der mich nicht gewollte hatte, völlig gleichgültig war, schien Tom, der inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war, regelrecht besessen von dem Gedanken, seinen Vater zu finden.“ Und mit tonloser Stimme fügte sie leise hinzu: „Und er hat ihn ja schließlich auch gefunden ...“ - „Ach ja, und meinen Vater habe ich schließlich auch kennengelernt. Es war im Krieg und keine sehr erfreuliche Begegnung, dieses erste Treffen, ganz im Gegenteil, doch das ist schon wieder eine andere Geschichte, an der übrigens du schuld bist.“ Sie lachte leise auf: „Wir haben einander ganz schön angeschnauzt, ich war wirklich nicht nett zu ihm, aber mit den Jahren wird man nachsichtiger ...“ - „Was hab ich denn damit zu tun gehabt, ich kann mich an nichts dergleichen erinnern?“ , wunderte sich Dumbledore. „Nun, er hat mich damals überprüft, schließlich arbeitete ich in einem Militärhospital, und es gab Zweifel an meiner patriotischen Loyalität.“ Mit einer wegwerfenden Handbewegung erklärte sie:„Man witterte damals überall Spione, und ich war schließlich mehrere Male in Gesellschaft eines ausgesprochen verdächtigen, exzentrisch gekleideten Individuums beobachtete worden.“ Charitys Augen blitzten, als sie hinzufügte: „Mal ehrlich, dieses pflaumenblaue Jackett mit dem Paillettenkragen, das du damals immer trugst, das war schon ein bisschen ...“ - „Ich hatte keine Ahnung, dass dich meine Besuche in Schwierigkeiten bringen könnten.“ Dumbledore wirkte bestürzt, doch Charity lächelte: „Ich war ja nicht in Schwierigkeiten, ich hatte ja nichts Verbotenes getan, und den Verdacht konnte ich leicht entkräften.“ - „Aber was um Himmels willen hast du denn über mich erzählt?“ Noch immer lächelnd entgegnete Charity: „Na die Wahrheit natürlich, du weißt doch, dass ich nicht wirklich lügen kann.“ Entsetzen malte sich auf Dumbledores Gesicht. Er stammelte erschrocken: „Die Wahrheit, aber wie ...“ Charity lachte wie über einen gelungenen Streich: „Ich habe erzählt, dass du eine private Internatsschule im Norden leitest und dass ich dich aus dem Waisenhaus kenne, wo du einem unserer Zöglinge ein großzügiges Stipendium angeboten hast – und dass man einen solchen Kontakt mit einem wohlwollenden Gönner, der mittellosen Waisen zu einer guten Ausbildung verhelfen kann, pflegen sollte. Na ja, und dass man da über ein paar exzentrische Kleidungsgewohnheiten und Verhaltensweisen durchaus hinwegsehen kann ...“ Dumbledore schüttelte den Kopf und murmelte: „Die Wahrheit ...“, doch Charity sagte forsch: „Ich habe nur die reine Wahrheit gesagt, keines meiner Worte war gelogen.“ Charitys Augen blitzten wieder und Snape konnte plötzlich hinter all den Falten und Runzeln dieses alten Gesichts das junge Mädchen von damals erkennen, als sie sagte: „Albus, weißt du, es kommt wirklich nicht darauf an, was diese Prophezeiung letztlich bedeutet, bedeutsam ist nur, was Harry selbst darüber denkt – und glaube mir, wenn er davon überzeugt ist, dass e r all die Schrecken, all dieses Morden, beenden kann, dann wird ihm das helfen, es auch tatsächlich zu tun. Mehr können und werden wir niemals wissen. Wir können nur hoffen, Albus. Du musst Harry vertrauen, genau wie du Severus vertraust. Weißt du, ich glaube, er wird es am schwersten haben. Wenn alles so kommt, wie du es geplant hast, werden ihn alle hier hassen. Und er wird sich niemandem anvertrauen können. Stell dir doch mal vor, was alle über ihn sagen und denken werden: Dumbledores Mörder ...“ - „Du hast - wie immer - Recht, Charity, ich weiß, dass ich sehr viel von ihm verlangen muss, vielleicht zu viel ...“ Zu hören, wie die beiden hier über ihn sprachen, verursachte ein seltsames Ziehen in Snapes Magengegend. Dieses Gespräch schien eine Fortsetzung vieler anderer Unterhaltungen zu sein, Snape verstand nicht, was Dumbledore mit der Suche in Toms Vergangenheit meinte, was er aufgespürt zu haben glaubte, was er Harry aufgetragen hatte. Doch eines verstand er: In diesem Plan spielte er, Severus Snape, eine Rolle, auch wenn er deren Einzelheiten nicht genau kannte, und Dumbledore vertraute ihm, ohne jeden Zweifel. Er verließ sich auf ihn, und mit einer Art grimmiger Entschlossenheit dachte er bei sich, dass Dumbledore sich ganz sicher sein konnte: Er würde ihn nicht enttäuschen. Charity beugte sich leicht nach vorn und sah Dumbledore in die Augen: „Weißt du, ich habe dir ja von meiner Idee erzählt, eigentlich gefällt mir der Gedanke, dass das letzte, was ich in diesem Leben tun werde, eine Hilfe für den Auserwählten sein wird. Wenn ich diesen Riddle dazu bringen kann, an seine Horkruxe zu denken, wenn Harry unbemerkt in seinen Geist eindringt, drei, sagtest du ja, sind es , die er noch finden muss – und die Schlange - dann hat das alles doch einen Sinn, dass ich überlebt habe, dass mich wieder einmal eine Katze gerettet hat. Man könnte doch auf die Idee kommen, dass es genau so sein muss ...“