Doch das bedeutete ja, dass sie -, nein, das konnte doch nicht sein, ein Muggel hätte doch niemals in Hogwarts ... Und wenn es doch stimmte? War das der Grund, warum ihr Büro so aussah, all diese Bücher, die seltsamen Notizen, der doppelte Bluff Dumbledores als Geheimniswahrer des Phönixordens – all das erschien ihr plötzlich in einem völlig anderen Licht. Konnte das tatsächlich wahr sein, hatte Dumbledore tatsächlich einen Muggel als Muggelkundelehrerin eingestellt? Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie Charity jemals Magie gebrauchen sah. Sie hatte immer den Eindruck gehabt, dass sie eine sehr begabte Legilimentikerin zu sein schien, doch nach dem, was sie bisher im Denkarium gesehen hatte, hatte Charitys Fähigkeit, Dinge zu sehen, die andere nicht sahen, nichts mit Magie zu tun. Und dieser Tom, über den sie mit Dumbledore sprach, der gefährlichste schwarze Magier, konnte das wirklich sein, war das Voldemort? Es schien ihr unmöglich, sich ihn als kleinen Jungen vorzustellen, als Schüler in Hogwarts – und doch musste es genauso gewesen sein ... Charity kannte ihn schon als Kind, sie wusste möglicherweise mehr über ihn als sonst jemand, ausgenommen vielleicht Dumbledore. War das der Grund, warum sie jetzt tot war? Hatte Dumbledore sie nach Hogwarts geholt, um sie zu schützen? Hatte seine Ermordung auch ihr den Tod gebracht?
„Glauben Sie mir, ich bin nicht froh darüber, dass ich Recht behalten habe, mir wäre leichter zumute, wenn ich mich geirrt hätte.“ - Charitys sanfte Stimme riss Minerva aus ihren Grübeleien, sie hörte noch, wie Dumbledore leise antwortete: „Ich weiß, ich weiß ...“
Und wieder verschwamm die Umgebung vor ihren Augen. Die Londoner Straße war verschwunden, stattdessen befand sie sich auf einer Wiese in einem Park. Frauen in Schwesterntracht schoben Rollstühle über die Wege, manche standen im Schatten der Bäume, einige Männer machten Gehversuche mit Krücken. Offenbar war sie in einem Sanatorium gelandet. Sie schaute sich suchend um. Beinahe hätte sie Dumbledore nicht erkannt. Er war wie ein gewöhnlicher Muggel gekleidet und schien auf jemanden zu warten. Ein wenig außer Atem kam Charity angelaufen. Es fiel Minerva schwer, in dieser ernst dreinblickenden, ziemlich abgemagert und erschöpft wirkenden jungen Frau das lustig aussehende Mädchen mit den Zöpfen wiederzuerkennen. Auch Dumbledore schien nicht zufrieden mit dem, was er sah. „Sie arbeiten zu viel, Mrs. Burbage“, stellte er fest, worauf sie ihn mit einem Lächeln ansah: „Sagen Sie doch bitte weiter Charity zu mir, wir kennen einander doch lange genug. Wenn Sie Mrs. Burbage sagen, dann fühle ich mich gleich noch zehn Jahre älter.“ Dumbledore lächelte ebenfalls: „Gut, Charity, wieviel Zeit haben Sie?“ Charity schaute rasch auf die Uhr über dem Eingang des Sanatoriums und entgegnete: „In zwei Stunden beginnt mein Nachmittagsdienst, bis dahin habe ich frei.“ - „Dann darf ich Sie zum Mittagessen einladen, ja. Sie sehen aus, als könnten Sie eine gute Portion vertragen.“ Erstaunt sah sie sich um: „Wo wollen Sie denn hin? Hier gibt es weit und breit nichts außer dem Speiseraum hier im Haus, aber da dürfen Fremde nicht rein.“ „Vertrauen Sie mir, Charity, ich werde Ihnen etwas zeigen, was Sie noch nie gesehen haben. Lassen Sie sich führen, haben Sie keine Angst.“ Irgendetwas war geschehen, sie befanden sich nicht mehr im Park des Sanatoriums, die Gegend kam ihr sehr vertraut vor, natürlich, sie war am Rande von Hogsmeade. Minerva drehte sich um und sah Dumbledore, der erschrocken auf Charity hinunterblickte, die gekrümmt dastand und sich übergeben musste. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, noch leicht grünlich im Gesicht, sah sie vor sich das Panorama von Hogwarts. Sie atmete tief durch und meinte trocken: „Sie haben Recht, der Anblick hat was.“ Sie machte ein paar große Schritte, und allmählich kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück. „Also, wenn mir das noch einmal bevorsteht, dann könne Sie sich die Einladung zum Essen sparen, es wäre schade drum, es sei denn, Sie hätten ein wirksames Mittel gegen diese Übelkeit beim – wie nennen Sie es – Apparieren.“ Dumbledore machte eine schwungvolle Handbewegung und gab ihr ein Fläschchen. Sie öffnete es vorsichtig und roch daran. „Aber das ist ja Alkohol, ich habe doch noch Dienst, das kann ich auf keinen Fall trinken, es scheint ungeheuer stark zu sein.“ - „Echter Feuerwhiskey“ , gab Dumbledore zu. „Sie sind unmöglich, wissen Sie das?“ Ihre Stimme klang streng, aber ihre Augen lachten. Dann schaute sie interessiert zum Schloss. „Und das ist also Ihre Schule, ein ziemlich alter Kasten, sehr imposant, aber sicher sehr schwer zu heizen ...“ Jetzt musste Dumbledore schmunzeln. Minerva aber konnte sich gar nicht genug wundern, dass Dumbledore so offensichtlich gegen das Internationale Geheimhaltungsabkommen verstieß. Er war ganz offensichtlich mit einem Muggel Seit-an-Seit-appariert, und dann hatte er dieser Frau auch noch Hogwarts gezeigt, nicht wie die Muggel es sonst sahen, als Ruine mit der Warnung „Einsturzgefahr“, sondern so, wie es wirklich aussah. Sie folgte den beiden ins Dorf. Albus führte sie in die „Drei Besen“ und bestellte das Essen. Er wirkte sehr angespannt und besorgt, was ihr natürlich sofort auffiel. „Was haben Sie denn für Sorgen? Ist wieder etwas mit diesem Tom?“ „Nein, er verhält sich auffallend unauffällig, offenbar ist er sich bewusst, dass ich immer ein Auge auf ihn habe.“ - Sie schaute ihn nachdenklich an. Minerva hatte sich auf einen freien Platz gesetzt, von dem aus sie beide gut im Blick hatte und lauschte gebannt. „Etwas beschäftigt Sie, Sie stehen vor einer schwierigen Entscheidung, aber eigentlich wissen Sie, dass Sie keine Wahl haben, also warum wollten Sie mit mir sprechen? Wie kann ich Ihnen helfen, wo Sie doch so unendlich viel mehr Möglichkeiten haben als ich?“ Dumbledore räusperte sich, dann begann er leise: „Ich habe das noch nie jemandem erzählt ...“ Sie schaute ihn offen an und nickte: „Und einem im Prinzip völlig Fremden gegenüber, von dessen Verschwiegenheit man überzeugt ist, redet es sich leichter, das kenne ich von meiner Arbeit. Fangen Sie an, ich bin eine gute Zuhörerin – und Expertin für hoffnungslos scheinende Fälle.“ Ihr Mund lächelte, doch ihre Augen blickte Dumbledore ernst an. Er sprach so leise, dass Minerva nicht alles verstehen konnte, doch sie sah in seinen Augen eine tiefe Traurigkeit, als er begann: „Ich habe vielleicht etwas Schreckliches getan ...“ Charitys ganze Haltung drückte Mitgefühl aus. Sie ermunterte ihn zum Weitersprechen: „Glauben Sie mir, nichts, was Sie getan oder erlebt haben, kann schlimmer sein als all die Schrecken, die meine Patienten in ihren endlos scheinenden Alpträumen wieder und wieder durchleben. Krieg ist etwas Schreckliches, er zwingt harmlose, friedfertige Menschen, Dinge zu tun, die sie nie für möglich gehalten hätten, Dinge mit anzusehen, die sie ihr Leben lang nie wieder loslassen werden. Sprechen Sie sich aus, niemand wird davon erfahren, Ihr Geheimnis ist bei mir sicher, so wie die Geheimnisse so vieler anderer, die sich mir anvertraut haben.“
Fasziniert beobachtete Minerva dieses Gespräch. Es kam ihr vor wie ein seltsam verkehrt aussehendes Bild, eine sehr junge Frau, so schmächtig, dass sie fast wie ein Kind wirkte, in der Rolle des verständnisvollen Zuhörers – und der ältere, viel erfahrenere Mann in der Rolle eines hilflos stammelnden, manchmal sogar weinenden Jungen ...