Rufus Scrimgeour biss die Zähne zusammen. Er wollte nicht schreien, er wusste, dass Bellatrix nur darauf wartete. Doch er war Realist. Er wusste, dass er keine Chance hatte. Das würde sein Ende sein, ein dummes, unwürdiges Ende. Lieber wäre er in einem Kampf gestorben! In einem Kampf ... Er hatte mit Sicherheit keine Chance, zu überleben, aber vielleicht hatte er eine Chance, zu schweigen. Er erinnerte sich an eine seiner vielen Reisen. Von einem alten chinesischen Magier hatte er gelernt, seine Okklumentik-Kräfte zu stärken. Es war Jahre her, seit er es zum letzten Mal geübt hatte, doch noch nie war es so wichtig gewesen, diese Kunst perfekt zu beherrschen. Er erinnerte sich an die Worte des Alten: „ Du musst dir etwas Undurchdringliches vorstellen, eine Felswand oder eine stabile Mauer – und die baust du in deinen Gedanken immer höher, dann musst du deinen Geist leeren, so dass man darin nichts mehr erkennen kann. Stell dir den Himmel vor oder die Erde, wenn du an deiner geistigen Mauer hinauf- oder an ihr herunterschaust – nichts anders wird dein Gegner sehen können, wenn du es richtig machst.“ Rufus holte tief Luft und konzentrierte sich, er wusste, was davon abhing.
***
Das Atrium zeigte deutliche Spuren eines kurzen, aber heftigen Kampfes. Der Brunnen der magischen Geschwister war zerstört, die Figur des Hauselfen zersplittert, der Sockel zertrümmert, der Kopf des Zentauren lag am Boden, in einer großen Wasserlache schwammen etliche Münzen, der Hexe fehlte ein Arm. Nur die Figur des Zauberers war fast unbeschädigt. Das letzte Mal, als dieser Brunnen in Trümmern lag, war ein Tag der Niederlage gewesen – heute war es s e i n Sieg! Das Ministerium war in seiner Hand! Gemessenen Schrittes durchmaß Voldemort die Eingangshalle, beherrscht von einem Gefühl des Triumphes: MAGIE IST MACHT - das war es – MACHT! Bellatrix hatte ihn gerufen, gleich würde er erfahren, wo dieser Potter sich versteckt hielt, und dann … - niemand würde dann noch an seiner Macht zweifeln!
***
Verächtlich schaute er auf die am Boden liegende Gestalt des alten Zaubereiministers herab. „Wo ist Potter?“ Das letzte Wort spie er förmlich aus. - „Ich weiß es nicht.“ Scrimgeours Stimme klang leise und schwach. - „Er lügt, ich kann es in seinem unwürdigen Geist sehen!“ Bellatrix' Stimme klang schrill. „Er will es auf die harte Tour!“ - „Crucio!“ - „Crucio!“ Bellatrix' und Voldemorts Flüche trafen ihn gleichzeitig und die Schmerzen wurden unerträglich, doch unbarmherzig blieben beide Zauberstäbe auf ihn gerichtet, während beide nicht aufhörten zu fragen: „Wo ist Potter?“ - Sie bekamen keine Antwort. Nur ein leises Stöhnen entrang sich der gemarterten Gestalt am Boden. Während Bellatrix ihren Zauberstab weiter auf ihn gerichtet hielt, fixierten Voldemorts rote Augen die von Rufus: „Legilimens!“ Gleich würde er es wissen, gleich würde er in diesem Geist sehen, wo sein ärgster Widersacher steckte. Seine Augen durchbohrten Scrimgeour, mit all seiner Kraft drang er in dessen Gedanken ein, doch er konnte keine Antwort auf seine Frage finden, also schrie er erneut: „Wo ist Potter?“ „Legilimens!“, während Bellatrix ihren Zauberstab auf Rufus richtete und mit süßlichem Lächeln flüsterte: „Crucio.“ Diesmal konnte er den Schrei nicht zurückhalten. Die Schmerzen waren unerträglich und er hoffte nur, dass der Tod ihn rasch von seinen Qualen befreien würde. Doch auch dieses Mal konnte Voldemort Harrys Aufenthaltsort nicht sehen, er sah nur eine Backsteinmauer, die höher und höher wuchs, nichts als diese Mauer, kein Hinweis darauf, wo dieser Potter war. Und noch etwas hatte er gerade gesehen in diesem schmerzverzerrten, alten Gesicht, er konnte es kaum glauben, aber war das nicht eine Spur von Genugtuung – oder gar Triumph? Dachte der Alte etwa, er könne ihm, Lord Voldemort, entkommen, indem er jetzt einfach so starb? Mit einem Blick verständigte er sich mit Bellatrix – zwei scharfe Wasserstrahlen schossen aus ihren Zauberstäben und trafen Scrimgeour, so dass er wieder zu sich kam. Er begriff, so schnell würde es nicht vorbei sein. Bellatrix ließ ihren Zauberstab peitschen, jede Bewegung fügte ihm einen tiefen Schnitt zu. Schon nach wenigen Augenblicken war er blutüberströmt. „Legilimens!“ „Crucio!“ - Diesmal flüsterte Bellatrix nicht mehr, sie kreischte vor Wut und ließ ihren Zauberstab wieder und wieder peitschen, doch es schien, als hätte alles, was sie tat, schon keinerlei Wirkung mehr auf Scrimgeour. Nur ein schwaches Wimmern verriet, dass er immer noch am Leben war. Noch einmal fixierten ihn Voldemorts Augen: „Legilimens!“ - „Crucio!“ - „Denkst du etwa, du könntest dich so einfach in den Tod flüchten? Ich entscheide, wann es so weit ist und ich dir gnädig den Tod gewähre, ich allein, Lord Voldemort! Mich hält man nicht zum Narren! Sag es endlich: Wo ist Potter?“ Bellatrix hatte während dieser Worte nicht aufgehört, den Minister zu quälen. „Du brauchst es nicht einmal zu sagen, wenn du dazu keine Kraft mehr hast, es genügt, wenn du es denkst – ich werde es in deinem unwürdigen Geist sehen.“ Voldemorts Stimme klang jetzt leise, fast einschmeichelnd. „Und dann wird es aufhören. Es ist so einfach. Diese Qualen müssen nicht sein. WO IST POTTER ?“ - „Legilimens!“ - „Crucio!“ Statt einer Antwort ertönte ein markerschütternder Schrei. Mit diesem furchtbaren Laut schien der letzte Rest Kraft aus Rufus' Körper gewichen zu sein. Begierig richtete Voldemort seinen Zauberstab auf Scrimgeours Gesicht. Nun würde er es endlich erfahren ... Die Backsteinmauer war verschwunden, stattdessen sah er in Scrimgeours Geist das Gelände von Hogwarts und das Grabmal von Dumbledore, davor standen Harry und der Minister – und er hörte ihn sagen: „Durch und durch Dumbledores Mann!“ Bellatrix schaute ihren Meister verwundert an. Sie hatte die letzten Worte auch gehört, Rufus hatte sie ausgesprochen! Es war das letzte, was er tat. Voldemort hatte seinen Zauberstab immer noch auf Rufus' Kopf gerichtet, als Bellatrix schon begriffen hatte, dass sie von ihm nichts mehr erfahren würden. Er war ihnen entkommen, ohne sein Wissen preiszugeben. Ihre letzten Flüche waren wohl doch zu stark gewesen, sie hatte ihn nicht zum Reden sondern ihm den Tod gebracht. Ein rascher Seitenblick auf Voldemort genügte, um ihr zu zeigen, dass der Zorn des Dunklen Lords sich Bahn brach. Sie disapparierte, bevor es so weit sein würde. Die Wut ihres Herrn wollte sie nicht zu spüren bekommen. Sie würden Potter mit der gesamten Macht des Ministeriums suchen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ihnen ins Netz gehen würde ...
Fast jeder, der Rufus Scrimgeour gekannt hatte, erinnerte sich daran, dass er ihm immer wie ein alter Löwe vorgekommen war. Das, was die Todesser von ihm auf dem Boden von Pius Thicknesses Büro übrig gelassen hatten, sah aus wie eine weggeworfene Lumpenpuppe, ein blutverschmiertes Bündel, das einmal ein Mensch gewesen war. Ob irgendjemand jemals erfahren würde, dass Rufus gekämpft hatte wie ein Löwe, dass er alles getan hatte, um Harry zu schützen, dass er gestorben war, um das Geheimnis seines Aufenthaltsortes zu wahren? Er war in einem Kampf gestorben, einem einsamen, aussichtslosen Kampf, sein letzter Gedanke galt Harry, dem Auserwählten, auf dem nun alle Hoffnungen ruhten. Und so seltsam es klingen mag, würde man sich Rufus' toten Körper genauer ansehen, dann könnte man in seinem zerschlagenen, zerschnittenen Gesicht tatsächlich einen Ausdruck von Triumph entdecken.