Echt? Das klingt toll :D

Zunächst mein größter Kritikpunkt: Der bescheuerte Herausgeber in den letzten 15 Prozent des Buches (ich habe es als E-Book gelesen). Werthers Zerrissenheit und seine Probleme, sein zunehmender Wahn wurden aus den Briefen und den Notizen klar genug. Es hätte keinen Erzähler gebraucht, der erstens spoilert (hey, auch wenn es heutzutage kaum jemanden gibt, der nicht weiß, wie die Geschichte ausgeht: Als das Buch veröffentlicht wurde, wussten die Leute das nicht und auch heute gibt es einige, die vielleicht nicht vorweggenommen bekommen wollen, wie Werther sein Problem löst) und zweitens völlig aus der Luft gegriffen ist.
Wenn es schon einen Herausgeber braucht und jemanden, der die Lücke zwischen den letzten Briefen und Tagebucheinträgen füllt (da Werther nicht mehr jeden Tag vernünftig dokumentiert und Lücken entstehen, er außerdem aus naheliegenden Gründen gewisse Sachen nun einfach nicht selbst aufschreiben kann), kann das jemand sein, der in der Geschichte bereits vorgekommen ist. Lottes Vater oder Wilhelm selbst wären beispielsweise keine schlechten Kandidaten gewesen, zur Not vielleicht noch Albert. Aber nicht irgendein namenloser Herausgeber, der noch nie zuvor erwähnt wurde im Verlauf der Handlung.
(Aber das ist meine Meinung *g*)

Ansonsten hat mir das Buch sehr gut gefallen. Goethe ist nun mal ohne Zweifel ein Meister.
Da wird sehr umsichtig mit Seelenlandschaften gearbeitet: Werther ist frisch verliebt und schwärmerisch? Wunderschöne, zum Träumen einladende Landschaft. Werther wird langsam wahnsinnig? Es regnet ununterbrochen, geliebte Wanderwege sind geflutet und es herrscht fast apokalyotische Atmosphäre.
Goethe nutzt außerdem Foreshadowing, als Werther bei einem scheinbar für die Handlung völlig belanglosen Dialog mit Albert an seinen Pistolen herumspielt (wüsste ich nicht, wie es ausgeht, hätte ich spätestens gegen Ende des Buches dann einen Aha-Effekt).
Hier ist jeder Buchstabe genau dort, wo er sein soll, um einen bestimmten Effekt zu schaffen - sei es, um die Atmosphäre zu festigen, sei es, um Werthers zunehmenden Wahn und seine Verzweiflung zu illustrieren.

Dazu kommt die Intertextualität - neben Werther wird ausgerechnet "Emilia Galotti" gefunden. Identifizierte Werther sich mit Emilia? Hat er darin gelesen? Aus den Briefen und Tagebucheinträgen geht das nicht hervor und stellt den Leser vor Rätsel (Lessing war übrigens nicht allzu glücklich darüber...).
Die höchsten Gefühlsausbrüche zwischen Werther und Lotte aber hängen immer mit Poesie zusammen, Werther liest aus seiner (bzw. eigentlich Goethes) Übersetzung der Ossian-Gesänge. Wobei ich mich frage, ob es Goethe bewusst war, dass es sich bei diesen um eine Fälschung handelte und nicht wirklich um einen antiken keltischen Text und ob das eine Rolle gespielt hat.

Klar, man denkt, heutzutage kann sowas nicht mehr passieren. Was ist in der heutigen Gesellschaft schon eine Hochzeit (oder gar eine Verlobung) für ein großartiges Hindernis zwischen zwei Menschen, die Leidenschaft für einander empfinden?
Auf den zweiten Blick hätte jedoch "Werther" durchaus auch in der heutigen Zeit spielen können und das liegt an Lotte. Sie hätte durchaus die Zeit und Gelegenheit gehabt, mit Werther etwas anzufangen (auch wenn das damals moralisch verwerflicher war als heute), hat ihn jedoch von sich gestoßen, ehe etwas passieren konnte. Auch wenn man nicht mehr dran glauben mag - auch heute noch gibt es treue Mädchen und Frauen auf der Welt, die, wenn in einer festen Beziehung, einen wirren Schwärmer (und wenn er noch so verführerisch Gedichte vorliest und frau sich beinahe betören ließe) zum Teufel jagen würden.